Eine Partei kann Dich gar nicht zu 100% vertreten

Es wird davon ausgegangen, dass die vom Wähler gewählten Parteien die Interessen der Wähler bestmöglich umsetzen.  Nach dem Gefühl der Wähler und einer Studie ist das aber größtenteils nicht der Fall.

Wie kommt es dazu?

Hier die wichtigsten Gründe:

Eine Partei kann den einzelnen Bürger praktisch nie zu 100% vertreten

Nach dem Ausfüllen des Wahl-O-Mats zur deutschen Bundestagswahl 2017 hat kaum ein Wähler eine 100%-ige Übereinstimmung mit einer der 32 Parteien festgestellt. Und das bei nur 38 Themen. Bürger/ Wähler sind Individuen und haben individuelle Meinungen.

Nur wenige Themen wurden vorher mit dem Bürger abgestimmt

Alle politischen Themen in einem Partei- oder Wahlprogramm aufzunehmen, ist schlichtweg unmöglich. Selbst wenn dieses möglich wäre, würde sich wohl kein Wähler diese mehrbändigen Werke durchlesen, und erst recht nicht die von mehreren Parteien. Insofern beschränken sich die Aussagen der Parteien im Wahlprogramm auf nur einige wenige Themenbereiche. Im Übrigen muss der Wähler auf die von ihm bevorzugte Partei vertrauen. Er wählt insofern nicht nur das Wahlprogramm, sondern vielmehr auch die dahinterliegende Philosophie dieser Partei.

Hierbei muss deren Ruf nicht unbedingt der Realität entsprechen. Selbst die Namensgebung kann täuschen. Zu den meisten Themen wird sich die Partei nicht mit ihren Wählern abstimmen können. Die gewählten Repräsentanten der Partei entscheiden also bei den meisten Fragen ohne den Wählerwillen zu dieser Frage wirklich zu kennen. In der Realität arbeiten die Parteien nur mit Annahmen; diese können durchaus weitab der Realität liegen.

Regieren in einer Regierungskoalition verwässert die Parteiziele

Fast immer ist es so, dass eine Partei nach der Wahl nicht alleine regieren kann, sondern einen Koalitionspartner ins Boot holen muss. Nur mit diesem zusammen hat die Partei eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament. Insofern kann keine der beiden (oder drei) Parteien ihre kompletten selbstgesteckten Ziele umsetzen.

Ein Schelm wer denkt, dass diese Situation den Parteien vorab nicht bewusst ist und deshalb deren Wahlversprechen etwas größer ausfallen lässt. Oft kommt bei der neuen Regierung dann ein „weiter so“ mit einigen kleinen Korrekturen heraus, oft nicht zum Besseren.

Als Abgeordneter ist man auf seine Partei angewiesen

Ein Land zu regieren ist nicht einfach. Es müssen viele Beschlüsse gefasst und Gesetzesänderungen beschlossen werden. Diese Themenvielfalt kann ein einzelner Abgeordneter gar nicht persönlich abdecken. Insofern ist jeder Abgeordneter auf seine Partei angewiesen. Diese muss das Thema so aufbereiten, dass sich der Abgeordnete in sehr kurzer Zeit thematisch einlesen kann, um auf einer guten sachlichen Basis seine Entscheidung zu fällen.

Stattdessen hört man von allen Abgeordneten, dass sie (a) zu viele, (b) zu umfangreiche, (c) zu unstrukturierte Unterlagen erhalten, die sie (d) in einer viel zu knappen Zeit durcharbeiten müssen. Häufig kapituliert der Abgeordnete vor dieser, für ihn alleine nicht zu bewältigenden Aufgabe, informiert sich selber nur oberflächlich und folgt schlussendlich der Abstimmungsempfehlung der eigenen Partei.  

Oder die Partei wählt die Abkürzung und lässt den Abgeordneten im blinden Vertrauen darauf abstimmen, dass die Parteikollegen es schon richtigmachen. Ob das dann der Verantwortung des Abgeordneten gegenüber dem Wähler gerecht wird, mag bezweifelt werden.

Dabei ist es erschreckend, wie wenige Abgeordnete über essentielle Fakten und Zusammenhänge Bescheid wissen und wie weit entfernt deren „Wissen“ von der Realität liegt. Befragungen zu dem Wissen über das aktuelle Geldsystem z.B. zeigen in praktisch allen Ländern massive Wissenslücken auf. Dies macht die Abgeordneten „lenkbarer“.   

Als Partei zieht man externen Sachverstand hinzu

Bei der eben aufgeführten Anzahl und Breite an Themen kann auch keine Partei alleine eine gute Aufbereitung der zur Abstimmung anstehenden Themen leisten. Um in der Kürze der Zeit z.B. Entwürfe vorzubereiten, lassen sich die Personen, die die Grundlagenpapiere zusammenstellen, gerne von externer Seite beraten. Dieses ist verständlich und sogar sinnvoll, schließlich sollte eine Entscheidung auf der Basis einer guten Faktenlage und Sachverstand getroffen werden.

Von der sehr unterstützenswerten Organisation Abgeordnetenwatch, wird aber zurecht bemängelt, dass die Abgeordneten wesentlich öfter Lobbyisten treffen, als die Vertreter von Bürgerinitiativen oder NGOs. Es wird auch zurecht bemängelt, dass es fast immer an Transparenz mangelt, mit wem sich die Verantwortlichen getroffen haben, um sich inhaltlich auszutauschen.  Sehr bedenklich sind hierbei die Leistungen, die während der Abgeordnetenzeit oder danach an die Abgeordneten fließen und so ihre Entscheidung beeinflussen können. Auf diese gehe ich noch in Kapitel 7 als eine der Schwachstellen der parlamentarischen Demokratie ein.

Gremien und Ausschüsse

Doch woher kommen die vorbereitenden Unterlagen und Informationen, welche die Abgeordneten erhalten? Diese werden von der Parteiführung (in deren Sinne) beauftragt zusammengestellt oder werden in Gremien und Ausschüssen erarbeitet. Die meisten der Gesetzesvorlagen kommen zunehmend aus Brüssel. Diese werden im Parlament meist durchgewinkt, da diese aufgrund ihrer Masse sonst den Parlamentsbetrieb aufhalten würden.

Diese „Machtballung“, bei wenigen Personen, ist ein perfektes Ziel für die Beeinflussung durch Interessengemeinschaften und eine der großen Schwachstellen der parlamentarischen Demokratie. Dies wird von mir in Kapitel 7 noch näher betrachtet.   

Fraktionszwang

Um regierungsfähig zu bleiben, muss sich die Koalition auf die Unterstützung der Abgeordneten ihrer Partei(en) verlassen. Funktioniert dies nicht, so kann es sein, dass sie ihre Anträge im Parlament nicht durchbringen und die geplanten Gesetze nicht beschließen kann.

Laut Artikel 38 des Grundgesetzes ist der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, und ist nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen. Die Fraktionsdisziplin ist in keinem Gesetz und auch nicht in der Bundestagsgeschäftsordnung festgelegt. Meist wird diese im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Es findet eine faktische Unterwerfung der Abgeordneten unter die Partei statt. Der Soziologe Erwin K. Scherch spricht in seinem Buch „Cliquen, Klüngel und Karrieren“ von einem „Feudalsystem“, das vom Prinzip „Tausch von Privilegien gegen Treue“ gekennzeichnet ist.. *

Abweichler müssen mit einem Verlust ihres Listenplatzes bei der nächsten Wahl rechnen. In schwerwiegenden Fällen können sie auch aus der Fraktion ausgeschlossen werden.  Nur sehr wenige Abgeordnete, wie z.B. Marco Bülow (SPD), trauen sich deshalb, sich teilweise nicht an die Fraktionsdisziplin zu halten. Auch sein Buch „Wir Abnicker: Macht und Ohnmacht der Volksvertreter“ ist sehr zu empfehlen. In einem Interview mit Mission Money (min. 26:05 bis 28:07) und seinem Buch „Wenn schwarze Schwäne Junge kriegen“ verweist der Autor Markus Krall auf die daraus resultierende Selektion der angepassten statt der besten Kandidaten für die Politik.

Der Fraktionszwang kann dazu führen, dass ein Gesetz beschlossen wird, obwohl dieses durch weniger als 50% der Abgeordneten befürwortet wird. Insbesondere wenn die Parteiführung Machtmittel, wie Rücktrittsandrohungen oder die Vertrauensfrage, einsetzt, ist dieses sehr wahrscheinlich.

Abstimmungen zu wichtigen Änderungen mit wenigen Abgeordneten

In der Geschäftsordnung des Bundestags, Paragraf 45 Absatz 1 steht:

„Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.“

Wie kann es dann zu Abstimmungen mit nur 60 Abgeordneten kommen, die als gültig erklärt werden?

Dies liegt an dem Absatz 2 des Paragrafen. Hier ist festgelegt, dass die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder aber 5% der Anwesenden angezweifelt werden kann. Da praktisch alle Gesetzesentwürfe aber fraktionsübergreifend vorbereitet werden, wird diese Option sehr selten genutzt. Der Bundestagspräsident hat laut Absatz 4 darüber hinaus die Möglichkeit, eine Beschlussunfähigkeit festzustellen, wenn die Anzahl der anwesenden Abgeordneten nicht mind. 25% beträgt. Dieses Recht nutzt er aber kaum.

Diese Abstimmungspraxis stellt eine Schwachstelle dar:

  • Abstimmungen, die vorab nicht fraktionsübergreifend abgestimmt wurden und bei der die eine Fraktion, die gegen diesen Antrag ist, weniger als 5% der Anwesenden hat
  • Abstimmungen, bei denen die Mitglieder anderer Fraktionen geschickt an der Teilnahme behindert werden (hört sich unglaublich an, wäre aber praktisch durchführbar)
  • Abstimmungen, bei denen sich eine kleine Gruppe aus mehreren Fraktionen abspricht und eine nicht vorbereitete Entscheidung trifft (zugegebenermaßen schwierig, aber möglich) 

Eine nachgewiesene eindeutige demokratische Legitimität haben die in kleinen Gruppen herbeigeführten Beschlüsse jedenfalls nicht. Staatsrechtler kritisieren diese Gesetzeslage und Praxis. Sie würden sich wünschen, dass mindestens die Hälfte der Abgeordneten im Plenum zu sitzen hat, wenn Gesetze beschlossen werden.

Ein Schelm wer hier eine Verbindung der Teilnehmerzahl an Abstimmungen zu der Beliebtheit der Gesetzesänderungen bei den Wählern sieht. Kann doch jeder Abgeordnete dann später seinen Wählern im Brustton der Überzeugung erzählen, dass er bei dieser Abstimmung nicht dabei war. Wie war das noch mit der gleichgeschlechtlichen Ehe und der nur anderthalb Stunden später erfolgenden Abstimmung zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz?

  • 623 Abgeordnete bei der Abstimmung über die gleichgeschlechtliche Ehe
  • Anderthalb Stunden später ca. 60 Abgeordnete bei der Abstimmung über die massive Einschränkung der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz („Anti-Fake-News-Gesetz“). Dieses Gesetz (NetzDG) wurde von vielen Experten, sowie dem UN-Sonderberichterstatter, wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit, massiv kritisiert. Eine offizielle Anwesenheitsliste ist auf der Seite des Bundestags, wie etwa bei der zuvor erwähnten Abstimmung, nicht zu finden.

* Erwin K. Scherch, Cliquen, Klüngel und Karrieren, S. 117