Die Repräsentationskrise der Politik

Eine empirische Studie der Universität Osnabrück untersuchte die Zustimmungsrate der Bevölkerung zu ca. 250 Sachfragen und deren politische Umsetzung.

Der ursprünglich 60 Seiten umfassende Ergebnisbericht floß wegen seiner Brisanz nur zu geringen Teilen und in entschärfter Form in den 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung einfließen. Lobbycontrol kritisiert diese Zensur scharf.

Einige Ergebnisse der Repräsentation waren:

  • Für die Gruppe der Einkommensstärksten konnte ein deutlich positiver Zusammenhang zwischen dem Wählerwillen und der politischen Umsetzung nachgewiesen werden.
  • Kein Zusammenhang konnte für die Mittelschicht nachgewiesen werden. Das heißt: Deren Wünsche sind der Politik egal.
  • Für die armen Bevölkerungsgruppen konnte ein negativer Zusammenhang nachgewiesen werden. Wörtlich heißt es, „dass die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung sogar sinkt, wenn mehr Menschen aus der unteren Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten“. Was bedeutet: Die Regierung ignoriert die Armen nicht nur, sondern arbeitet praktisch gegen deren Willen.

Dass wir die brisanten Ergebnisse des Originalberichts sowie dessen Schlussfolgerungen überhaupt zu sehen bekamen, haben wir der Organisation Lobbycontrol zu verdanken. In einer Pressemitteilung vom 15.12.2016 wird Christina Deckwirth von Lobbycontrol wie folgt zitiert:

„Die Bundesregierung zensiert die unliebsamen Ergebnisse ihrer eigens in Auftrag gegebenen Studie. Das ist Realitätsverweigerung. Die vom Arbeitsministerium in Auftrag gegebene Studie zeigt deutlich: Wer mehr Geld hat, dessen Interessen werden eher von der Politik umgesetzt. Einkommensschwache haben dagegen so gut wie keinen Einfluss. Wenn politische Entscheidungen sich einseitig an den Interessen der Bessergestellten orientieren, gerät das demokratische Gleichheitsgebot ins Wanken.“

„Die Bundesregierung könnte diesen Befund zur Kenntnis nehmen und gegensteuern. Stattdessen greift sie zur Zensur. Das ist einer Demokratie nicht würdig.“

Christina Deckwirth, Lobbycontrol

Änderungen, die laut den Recherchen von Lobbycontrol vorgenommen wurden, waren u.a.:

  • „In einer früheren Version, die noch nicht von den anderen Ministerien bewertet wurde, hatten die Autoren des Berichts die Studie ausführlich dargestellt. In der aktuell vorliegenden Version wurde nun der Teil, der die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und politischen Entscheidungen darstellt, weitgehend gelöscht. Die Bundesregierung zensiert also die unliebsamen Ergebnisse ihrer eigens beauftragten wissenschaftlichen Studie.“
  • Die folgende Passage wurde laut Lobbycontrol komplett gelöscht: „„In Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert.“
  • „Das Kapitel „Einfluss von Interessenvertretungen und Lobbyarbeit“ wurde gleich vollständig aus dem Bericht getilgt.“ 
  • „Die Akteure, die ihre Interessen gegenüber der Politik formulieren, wurden zumindest stichpunktartig in der ersten Version genannt – fielen nun aber vollständig den Streichwünschen der anderen Ministerien zum Opfer. Hier tauchten in der ersten Version nicht nur die klassischen Verbände und Unternehmensrepräsentanzen mit ihren Lobbyvertretern auf, sondern auch Think Tanks und Stiftungen.“

Eine US-amerikanische Studie „Affluence and Influence“ (Reichtum und Einfluss) der Princeton Universität von 2012 kam zu ähnlichen Ergebnissen. Auch für die US-Politik sind die Ansichten der Armen und der Mittelschicht bestenfalls irrelevant.  

Die Washington Post schrieb im Mai 2016 während des noch laufenden Präsidentschaftswahlkampfes:

„Viele Amerikaner, die für Außenseiterkandidaten stimmen, glauben, dass die Regierung sie weitestgehend ignoriert. Wir denken, sie haben recht.“

Washington Post, Mai 2016